Enne Haehnle – Spur X
Text von Anja Schürmann
»Jede Mitteilung geistiger Inhalte ist Sprache, wobei die Mitteilung durch das Wort nur ein besonderer Fall ist.«
(Walter Benjamin) *
Wann ist ein m ein m? Wann ist aus der Linie ein Buchstabe, ein Zeichen
geworden? Bei einem m muss der Buchstabe zu 75 % vollendet sein, damit
er erkannt wird; vorher ist er ein n. Aber dieses Verhältnis ist
beileibe nicht auf alle Buchstaben, nicht auf alle Satzkonstruktionen
anwendbar. Und gilt auch nicht für Enne Haehnle, da sie nicht in
gedruckter, sondern in geschriebener Sprache arbeitet.
Spur X heißt ihre Arbeit am Kirchplatz, X ist dabei eine austauschbare
Variable, eine Unbekannte. Denn das eigene Verlangen zu lesen, zu
erkennen, wird von Haehnles skulpturaler Textfigur getriggert. Doch das
gelingt nur eingeschränkt, da ihre Schrift nämlich nicht nur eine
Oberfläche beschreibt. Ändert man die Perspektive, bildet sie einen
›Quasiraum‹, ein erratisches Liniengewirr aus Orange, das man nicht
lesen kann, nicht lesen soll. In seiner Position beschränkt, kann der
Körper nie alles sehen, noch verstehen. So wird der Text nicht nur ge-,
er wird erfunden: In jedem Leseakt von Neuem wird er vom Leser ergänzt,
weitergedacht und komplettiert. Lesen besteht nämlich nicht im Erkennen
einzelner Buchstaben, sondern im Zuordnen von Wortkonturen, von Mustern:
das Auge springt in kleinen Schritten zu Buchstabenkonstellationen, die
charakteristisch für ein Wort sind, bis die Zeile abgetastet ist. Doch
hier gibt es keine Zeilen, es gibt auch keine Großbuchstaben, die immer
sehr hilfreich für die Worterkennung sind: Alles dreht sich, windet sich
aus drei Zugängen nach unten, trifft auf einen zentralen Lichtschacht,
der dem Spiel aus Stahl und Farbe den größten Platz bietet.
Hier – auf der inneren dreieckigen Fliesenwand im Schacht – erkennt man
in sich gedreht einzelne Wörter: »sich leere«, »leert sich fülle«. Leere
und Fülle, Material und Raum sind traditionelle bildhauerische Themen,
Auseinandersetzungen, die mit selbstbewusster Leichtigkeit und
verschwenderischer Geste behandelt werden: Mühelos scheint das
neonleuchtende Orange jede Keramiklinie, jede Schwerkraftregel zu
missachten und füllt so unökonomisch wie irrational den Raum. Bewusst
wird hier durch zahlreiche Windungen eine Materialfülle erzeugt, die in
keinem Verhältnis zum Geschriebenen steht und semantische Leerstellen
offenbart. Da sie tatsächlich nach unten auszulaufen scheint, leert sich
die »fülle« auch visuell und durch die Bögen und Schwünge werden
Assoziationen zu Schreibübungen oder automatischen Kritzeleien geweckt.
In loser Referenz zu den Himmelsrichtungen der jeweiligen Zugänge hat
Haehnle vier Texte in einer bewusst handschriftlichen Optik mit breiter
Laufweite konzipiert. Zusammen mit dem Leipziger Kunstschmied Andreas
Althammer übersetzte sie Teilstücke – in Aluminium vorgeformt – in
orangefarbig gefassten Stahl, der nun über den matten, längsrechteckigen
Keramikfliesen schwebt.
In anderen Arbeiten hat Enne Haehnle sich ebenfalls mit der Grenze von
Bezeichnetem und Unbezeichnetem auseinandergesetzt. Sie schuf
handschriftliche Linien und Worte aus Ton. Ton, der ungebrannt durch
Regen oder Besucher zerstört, weggespült werden konnte. So beleuchtet
sie in ihren Textarbeiten das Verhältnis vom Objektiven des Textes mit
dem Subjekt des Lesers: in der Begegnung der beiden kann der Text
entstehen, aber auch verschwinden.
Jede Form der Erkennbarkeit, jede
Markierung setzt ein Heraustreten aus der Schutzzone der
Ununterschiedenheit, Unsichtbarkeit oder Verborgenheit voraus. Der
englische Begriff ›to mark‹ erfasst auch ein Spektrum von Bedeutungen,
die wesentlich differenzierter und nuancenreicher sind, als das
technisch konnotierte deutsche ›markieren‹. Englisch ›mark‹ kann auch
als ›Spur, Fleck, Schramme, Kratzer, Narbe, Verletzung, Mal oder Makel‹
übersetzt werden. Haehnle legt diese Spuren als orange Linien, die sich
zu Worten, vielleicht sogar zu Sätzen verdichten können. Ornamental für
und wider die Sprache gerichtet machen ihre Wortbilder aus dem Leser
einen Betrachter, der wieder zum Leser werden kann.
*
Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, in: ders., Gesammelte Schriften, II. 1, hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. Main 1991, S. 140.Back to top