Die Kunst des Auftrags
oder Künstlerische Gestaltung im ungestörten Betriebsablauf
Sabine Maria Schmidt
In seinem Essay „U-Bahn als U-Topie“ beschreibt Boris Groys anschaulich den Konflikt utopischen Bauens an topischen Orten.
1 Während Utopien räumliche Isolationen (wie eine Insel, eine Wüste oder einen anderen Planeten) benötigen, es dort aber gemeinhin an Menschen und Materialien fehlt, bedeuten infrastrukturell ausgerüstete und bereits bewohnte Räume immer eine maßgebliche Beeinflussung und Prägung des Utopischen, das an die Lebensbedingungen angepasst werden muss. Zudem werden Utopien meist nicht fertig. Schließlich sind sie für die Ewigkeit erbaut und ihre Errichtung kann deshalb keine geringere Zeit als die Ewigkeit in Anspruch nehmen; ein Phänomen, das sich bei manchem Großbauprojekt in Deutschland der letzten Jahre ungewollt verfestigt hat. Groys Betrachtungen fokussieren sich auf die utopischen Stadtentwürfe der zwanziger und dreißiger Jahre am Beispiel Moskaus, für die zumindest auf dem Reißbrett nichts undenkbar war. Architekten und Ingenieure visionierten eine gänzlich bewegte Stadt zwischen Himmel und Erde, mit fliegenden Bauten, suprematistischen Konstruktionen und Bewohnern in ständiger Bewegung und entdeckten schlussendlich das unterirdische Reich als antipodischen (Hölle) und utopischen Raum des Unbesetzten. Mit dem größten sowjetischen Prestigeprojekt der 30er Jahre, dem Bau der Moskauer Untergrundbahn erhielt die stalinistische Ära auch ihre bauideologische Fundamentierung.
2 Die reich ausgestatteten, palastartigen Metrostationen, Bilder einer utopischen Vergangenheit, Tempeln gleich, haben zwar einen bis heute gültigen Typus geschaffen
3, allerdings das Verhältnis und Verhalten ihrer U-Bahn-Benutzer nie prägen können. Menschen drängen durch schmale Eingänge auf ewig langen Rolltreppen, ohne Zeit sich umzusehen oder gar zu verweilen in die schnell getakteten Züge. Damit ist die avantgardistische Utopie vom Menschen in ständiger Bewegung erfüllt, doch lässt sich die ideologische Symbolik nicht mehr entziffern, so Groys. Nicht die architektonischen und künstlerischen Bilder wurden betrachtet, vielmehr betrachteten die Bilder (und das waren lange die bohrenden Blicke Stalins und anderer Staatsvertreter) die Menschen. Noch etwas anderes verknüpfte die Metro mit avantgardistischen Utopien: das Fehlen von natürlichem Licht zugunsten eines künstlichen, neuen Lichtes im Kontext der angestrebten Elektrifizierung des ganzen Landes.
4 Die Untergrundbahnen wurden schnell Ort und Anlass fiktionaler Phantasien und Verschwörungstheorien. Während sich die Moskauer Bevölkerung unter verzehrendem Einsatz an der kollektiven Realisierung des Unmöglichen, des „Sich-Einrichten ins Nichts“ machte, war die Londoner U-Bahn in der Ära der Moderne längst literarischer, filmischer und kapitalismuskritischer Topos geworden.
5Bewohner der europäischen Großstädte erfahren die U-Bahn kaum als utopischen Raum, sondern eher als pragmatisch, technische Lösung eines effizienten Personentransportsystems, das sich in vielen Metropolen als beständiges Fortschreibungsprojekt erweist und mit gänzlich unterschiedlichen städtebaulichen, historischen und geographischen Bedingungen je unterschiedlichste Lösungen erfordert. Als künstlerische Bauaufgabe, die sich abgesehen von den Ingenieursleistungen, auch architektonisch und gestalterisch auszuweisen hat, ist der Nahverkehrsraum, die Gestaltung von Stadt-, U-und Straßenbahnen samt dazu gehöriger Infrastruktur seit der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts lange vernachlässigt und erst nach einer Ära „autogerechten“ Städtebaus nicht zuletzt im Zuge eines international gewordenen Standort-Wettbewerbs wiederentdeckt worden. Dabei definierten die ersten Untergrundbahnen, nicht selten maßgeblich das Image einer Stadt. Die von Edward Johnston 1916 entwickelte Schrifttype, das Logo von Frank Pick von 1918 und der erste diagrammatische Linienplan prägen bis heute das Stadtbild der britischen Hauptstadt und haben gar eine eigenes Genre, auch unerschöpflichen Merchandisings, begründet.
6 Die von Hector Guimard gestalteten ornamentalen Art Nouveau-Eingänge der Pariser Metro-Stationen, von denen noch immer annähernd 88 existieren, sind gar ein Exportschlager geworden. Reproduktionen finden sich in Chicago, Lissabon, Mexiko City und im MoMA New York, ein Original in Montreal.
7 Der Komplex des Andrássy Boulevard in Budapest mit seiner untererdig verlaufenden U-Bahnstrecke, der ersten auf dem europäischen Kontinent, die „Földalatti“ (1896 in Betrieb genommen), wurde 2002 zum Weltkulturerbe nominiert.
Ober- und zunehmend unterirdische Straßenbahnen galten zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Inbegriff moderner Urbanität und suchten die zunehmende Dynamisierung der Städte und die stetig wachsenden Verkehrsströme zu bewältigen. Oft waren Großereignisse wie Weltausstellungen, in Budapest die Milleniumsausstellung 1896 Anlass für neue Großprojekte, um die Beförderung zahlreicher Besuchermengen zu gewährleisten; ein Trend, der sich mit den zeitgenössischen Großspektakeln der letzten Jahrzehnte fortgeschrieben hat. München, Barcelona und Athen verdanken ihre Metroerweiterungen den Olympischen Spielen.
Wie anregend und inspirierend künstlerische Interventionen in alltäglichen Nahverkehr sein können, erfahren Einwohner und Touristen gleichermaßen, wenn sie sie nur aus den zahlreichen Logo, Werbe- und Marketinginformationen, Verbotsschildern, kitschigen Lichtinszenierungen oder Las-Vegas-artigen Fassadendekorationen in den täglichen Transitzonen herausfiltern können. Herausstechende Beispiele gibt es an vielen Orten: In London locken seit den 30er Jahren Kunstwerke in die Tiefe, darunter die umfassenden Mosaiken von Eduardo Paolozzi an der Tottenham Ct.Rd aus den frühen 80er Jahren. Nur selten werden U-Bahnen dabei als architektonische und künstlerisch durchgestalteter Raum verstanden und benutzt, wie z.B. die Athener U-Bahn, in der die zentralen Stationen mit zahlreichen Fundstücken museumsähnlich ausgestattet wurden und andere als Orte für Ausstellungen und Veranstaltungen dienen. Die Stockholmer U-Bahn, die einzige in Schweden, genießt ihren Ruf als größte Kunstgalerie Europas; ein Konzept, das nun in fernöstlichen Metropolen wie Shanghai und Hongkong getoppt sein dürfte. Doch meist bleiben künstlerische Interventionen singulär, inhomogen und vor allem rar. Wer sein Fortbewegungsleben mit öffentlichen Verkehrsmitteln bestreitet, will meistens nur schnell wieder weg und weiter und findet nur selten wirtliche und stimulierende Orte vor, ein großes Versagen öffentlicher Baukultur.
Die wichtigste Maßnahme zur Förderung öffentlicher Kunst an/in öffentlichen Bauten nach dem 2. Weltkrieg formulierten „Kunst am Bau-Regelungen“, die empfahlen, einen bestimmten Prozentsatz der Bausumme für künstlerische Projekte aufzuwenden; ein wichtiger, vielschichtiger, bisweilen aber auch unvereinbarer Ansatz. Diese Form der Kunstförderung ist im Laufe der Jahrzehnte von Künstlern, der Kunstkritik und den Bürgern aus unterschiedlichsten Motiven zunehmend kritisiert worden. Dass Künstler erst zu Rate gezogen werden, wenn es bereits zu spät ist, gehörte dabei zu den Hauptkritikpunkten in der Geschichte um „Kunst am Bau“ und „Kunst im öffentlichen Raum“. Um die enorme Bedeutung der Konzeption und Realisation der durchgestalteten Wehrhahnlinie zu verstehen, die in Düsseldorf und in der internationalen Presse zu Recht gefeiert wird, lohnt sich ein kleiner Rückblick und Zustandsbericht.
Auch in Düsseldorf lassen sich die historisch veränderten und entwickelten Diskurse um „Kunst am Bau“ und „Kunst im öffentlichen Raum“ im Stadtbild ablesen. Viele Impulse gingen dabei von Professoren und Schülern der Kunstakademie aus. Und ohne Frage profitierte die öffentliche Kunst Düsseldorfs nicht zuletzt vom wirtschaftlichen Aufschwung und der Finanzkraft bedeutender Unternehmen, die seit den 60er Jahren bedeutende Kunstwerke aufstellten, so 1971 die herausragende Corten-Stahl-Skulptur „Monumento“ von Eduardo Chillida vor dem Thyssen-Haus. Mit dem Neubau des Landtags am Rhein 1988 und der Einrichtung der Kunstsammlung NRW im Ständehaus (2002) gelangten Arbeiten von hochrangigen Künstlern wie Dani Karavan, George Rickey, Barnett Newman, Dan Graham, und Alf Lechner in die Landeshauptstadt. In den 80er Jahren boomte und brodelte der Diskurs um „Kunst im öffentlichen Raum“, aus dem zahlreiche neue Konzepte hervorgingen, international. 1987 nahm die Stadt Düsseldorf die BUGA zum Anlass, Kunstwerke für den Volksgarten und Südpark zu initiieren. 1988 organisierten die Düsseldorfer Künstler zum 700-jährigen Stadtjubiläum die Kunstachse "Skulptur D-88", bei der mehr als 40 Objekte zwischen Altstadt und Ehrenhof aufgestellt wurden. Allerdings verblieben nur wenige davon bis heute an Ort und Stelle.
8 Aus dieser Zeit stammen auch die in Auftrag gegebenen Gemälde in der U-Bahn-Station an der Heinrich-Heine-Allee.
9Dennoch hat sich die Stadt Düsseldorf trotz ihres hohen Potentials an Künstlern, das durch die Kunstakademie beständiges Wachstum erfährt, im Kontext der Diskurse seit den 80er Jahren nicht sonderlich innovativ zum Themenbereich hervorgetan.
10 Das liegt nicht zuletzt daran, dass die 1974 entwickelten und nur partiell ergänzten „Richtlinien über die Förderung zu „Kunst am Bau“ der Landeshauptstadt Düsseldorf „keinen konsistenten, kontinuierlichen und planvollen Umgang“ mit Kunst am Bau und im öffentlichen Raum erlauben“, wie die von Künstlern initiierte Arbeitsgruppe für die Einrichtung einer Kunstkommission nach Münchener Vorbild unter starker Beteiligung von Bildenden Künstlern subsumierte.
11 Zudem fristet die „Kunst am Bau“ in Nordrhein-Westfalen heute eher ein Schattendasein. Im Kontext gravierender Budgetkürzungen im NRW-Kulturetat wurde 2002 die zwingende Vorschrift gestrichen, bei der Errichtung öffentlicher Bauten 0,4 bis zwei Prozent für Kunst aufzuwenden. Aktuell stehen im Landesetat nur noch Minimalbeträge zur Verfügung.
Dennoch besteht Konsens über den Wert von Kunst, da sie nicht nur kostet, sondern auch nutzt. Wie wichtig symmetrische Planungsgrundlagen für Architekten und Künstler von Beginn an sein können, zeigt exemplarisch die architektonisch-künstlerisch ausgearbeitete Wehrhahn-Linie. Dass dabei eine dezidiert ausgearbeitete, anspruchsvolle öffentliche (und mittlerweile auch private
12) Auftragskultur angesichts zunehmender Interessensgemengelagen und öffentlicher Budgetknappheit grundlegende Voraussetzung ist, die weiterentwickelt werden muss, dürfte zugleich Ansporn weiterer Planungen für die Landeshauptstadt sein.
„Kunst braucht keine steifen Ideologien“, kommentierten die netzwerkarchitekten in der Pressemitteilung zur Eröffnung der Wehrhahnlinie. Grundlegend für ihre Entwurfsstrategien sei der Anspruch, aus komplexen Bedingungen, leichte und dennoch signifikante Lösungen für die Bauten zu finden, die den Bedürfnissen der Nutzer gerecht werden. Nur selten bietet sich allerdings die Möglichkeit, einen umfassenden öffentlichen Bauauftrag gesamtgestalterisch zu durchdenken. Mit der Jurierung und Beauftragung der Konzeption des in Darmstadt ansässigen Büros netzwerkarchitekten zusammen mit der Künstlerin Heike Klussmann wurde nicht zuletzt eine sinnfällige und mutige kulturpolitische Entscheidung gefällt. Denn das Gesamtkonzept eines U-Bahnhoftunnels als „unterirdisches Raumkontinuum“, das durch Bewegungslinien unter dem Erdreich und eine helle refliefartige Netzstruktur miteinander verbunden ist und durch klar definierte Raumschnitte von den jeweils individuell gestalteten Verteilerräumen der einzelnen U-Bahnstationen markiert wurde, war von Beginn an auf eine enge Zusammenarbeit von Architekten, Ingenieuren, Künstlern und Bauherrn angelegt. Zudem setzten die städtischen Auftraggeber und Gewinner mit ihrer zweiten Ausschreibung 2002 weniger auf „große Namen des Kunstmarkts“, denn auf erfahrene und versierte Positionen, die zugleich bereit waren, auf die besondere Herausforderung einer spannungsreichen und auch baubezogenen Einengung künstlerischer Auseinandersetzung zu reagieren. Für die Gestaltung der sechs Stationen wurden die fünf eng mit Düsseldorf verbundenen Künstler Ralf Brög, Ursula Damm, Manuel Franke, Enne Haehnle und Thomas Stricker eingeladen. Heike Klussmann, als unermüdlicher Hochleistungsmotor des Projektes, gestaltete zudem die sechste Station.
Weiträumigkeit, Übersichtlichkeit, großzügige Sichtbeziehungen zwischen Bahnhöfen und Verteilerebenen und soweit wie möglich der Einbezug von Tageslicht kennzeichnen die Architektur der Wehrhahnlinie. Fast ein Kuriosum der insgesamt 3,4 Kilometer kurzen Strecke ist die Möglichkeit, weit hinein in die sonst meist düsteren Tunnel zu blicken, bisweilen gar schon bis auf die nächste Station.
Dass sich zudem die Überlegung durchsetzen konnte, zugunsten einer puren architektonischen Raumerfahrung zumindest unterirdisch auf jegliche Werbung zu verzichten, ist vor dem Hintergrund durchökonomisierter Innenstädte, die ihre Besucher nur mehr als Konsumenten ansprechen, ein ungewöhnlich gewordenes Statement und Erfahrungspotential; auch wenn es wie in Düsseldorf zugleich oberirdisch mit dem luxuriösen Kö-Bogen-Areal von Daniel Liebeskind schnell wieder aufgehoben wird.
U-Bahnstationen sind meist keine wirtlichen Orte des Aufenthalts, kein Kontext, in dem nichtfunktionale Konventionen erwartet oder eingefordert werden können. Die technisierte Bewegung von Menschenmassen ist dabei strengen Regeln unterworfen, die auch von ihren Nutzern Anpassungsbereitschaft voraussetzt. Wer an einem solchen Ort künstlerisch arbeiten will, muss sich nicht nur den technischen, organisatorischen und baurechtlichen Bedingungen unterwerfen, sondern auch ein Bewusstsein dafür haben, dass es nur wenig Sinn macht, gegen diese Mechanismen zu arbeiten. Nichts wäre weniger wünschenswert als eine „Störung im Betriebsablauf“. Die Trennung zweier Gestaltungszonen in Gleistrassen und Verteilerräume durch die Definition mittels Schnittstellen, hat dieses Konfliktpotential bereits in der Grundkonzeption geschmälert.
Besondere Bedeutung für die Verbindung beider Zonen kommt dabei den ausgewählten Materialien zu, die in der Tat in der Wehrhahnlinie hervorstechen. Neben der Vielfalt künstlerischer Lösungsansätze entwickelten nahezu alle Beteiligten für ihre Stationen individuelle Oberflächen und Materialien. So selbstverständlich und leicht ihr Einsatz erscheint, so präzise und komplex ist doch ihr Entwicklungsprozess. So besteht die sich ständig verändernde Netzstruktur des „Kontinuums“ aus hochwertigen Betonfertigteilen aus rautenförmigen Grundelementen. Diese sind mit breiten Schattenfugen in unzähligen Variationen zusammengefügt und lassen eine visuell vibrierende Raumzeichnung entstehen, die als Markenzeichen der Wehrhahnlinie gelten kann. Thomas Stricker entwickelte zusammen mit den netzwerkarchitekten eine in Edelstahl geprägte Matrix, die die Anmutung eines unterirdisch-kosmisch schwebenden Raumschiffs noch verstärkt. Prägeverformte plastische Emaille-Elemente, die die Akustik des Raumes durch Veränderung der Brechungswinkel optimieren, unterstützen die akustischen Interventionen Ralf Brögs. Manuel Frankes leuchtende Glastafeln verknüpfen auf hochkomplexe Weise Handarbeit und malerischen Gestus mit industrieller Fertigung.
Wie selbstverständlich sind zudem jegliche Genredebatten überholt, verschiedenste künstlerische Praktiken und Ausdrucksformen vertreten, darunter auch Video-, Medien- und Soundarbeiten, die im öffentlichen Raum erst seit den 90er Jahren verstärkter Berücksichtigung fanden. Dass angesichts der langdauernden Planungsphasen (2002 – 2015) alle ‚bei der Stange geblieben’ sind, sich kein Konzept bis zur Realisierung überholt hat, ein Problem, das gerade technisch basierte Arbeiten betreffen kann, zeugt von der auf Langfristigkeit ausgerichteten Konzeption der Künstler. Diese setzen auf abstrahierte Formensprachen, verhaltene Metaphorik, Materialinszenierungen und kaum auf Spektakuläres, Effekte und Modisches. Vielmehr treten alle Beteiligten im Gesamtensemble als Hauptakteure zurück, ohne auf ihre spezifische Wiedererkennbarkeit und autonome Singularität zu verzichten; auch wenn es zahlreiche Kompromisse gegeben haben muss. „Es ist kaum mehr sichtbar, wo die Ingenieurskonstruktionen beginnen und die Kunst aufhört“, kommentierte Thomas Stricker euphorisch während einer Pressebegehung. Ralf Brögs Konzeption dreier Soundkorridore, die er als zukünftige „Aufführungsorte“ verstanden wissen will, weist zudem auf ein weiteres Moment. Die U-Bahn als Ort möglicher „räumlicher Praxis“ (Henri Lefebvre) sollte weiterhin jenseits seiner mobilitätssteigernden Transitfunktionen erschlossen werden. Doch was kann den zunehmend wachsenden „Nicht-Orten“ entgegengesetzt werden, den innerstädtische Orten, die durch Austauschbarkeit, Vereinzelung und Geschichtslosigkeit immer ähnlicher werden, in denen Sprache auf ein Minimum reduziert ist und soziales Leben im Alleingang bewältigt wird, wie der Ethnologie und Anthropologe Marc Augé bereits Mitte der 90er Jahre beschrieb.
13Wie bewegen wir uns in der Stadt? Was passiert in ihr? Worauf sind Räume ausgelegt, welche Schnittstellen lassen sich finden und erschließen, welche Bewegungsräume definieren? Was lässt sich aus der Stadt auch zukünftig noch aus sie heraus- und in sie hineinlesen? Diese für „Kunst im öffentlichen Raum“ zentralen Themen werden nicht nur explizit in Ursula Damms und Enne Haehnles Beiträgen thematisiert. Jede Bewegungsform entspricht einer spezifischen potentiellen Erkenntnisform. Behutsam und fast intuitiv leiten die von den Künstlern gestalteten Schnitträume auf den Verteilerebenen in die unteren Bahnebenen über, unterstützen die Orientierung und dienen damit auch der verkehrstechnisch angestrebten optimierten Beschleunigung der Nutzer. Bei Manuel Franke sind es etwa die Flächen- und Linienverläufe in den Glastafeln, bei Heike Klussmann die dynamisierten und raumgeometrisch gedrehten Zugrichtungen ihrer grafischen Bänder.
Zugleich finden sich in allen Stationen Momente expliziter ästhetischer Verlangsamung. Ein Flaneur lässt sich treiben, ihn interessiert anders als den zielstrebigen U-Bahn-Benutzer nicht das Wohin, sondern das Wo, für das deutlich mehr Zeit benötigt wird. Es wird sich so mancher Passant verdächtig machen, der sich aus dem gleichmäßigen Rhythmus der kollektiven Bewegungsströme loslöst und von einigen sanft lauernden Magnetismen in den Stationen verführen lässt, wie von den gegenläufigen langsamen Bewegungen der Planeten in den Videopanelen Thomas Strickers, den schwer dechiffrierbaren Textbotschaften Enne Haehnles, oder den nur temporär wahrnehmbaren akustischen Emanationen Ralf Brögs. Nicht die Kunst ist der Luxus, sondern die Zeit, die man sich nimmt, um ihr zu begegnen und die Stadt zu erleben.
In den künstlerischen Beiträgen der Wehrhahnlinie sind zahlreiche praktische Erfahrungen mit „Kunst am Bau“ eingeflossen und verschiedene theoretische urbanistische und soziologische Ansätze inhärent, die unterschiedlich bewertet und analysiert werden dürften.
Sie lassen sich auch als exemplarisches künstlerisches Arbeiten in Auseinandersetzung mit den Anforderungen lesen, die in unserer Gesellschaft geschaffen, aber immer weniger hinterfragt werden. Dabei ist der öffentliche Raum immer wieder neu verhandelbar. Die „Kunst des Auftrags“, die es mit jeder neuen Bauaufgabe neu zu entwickeln gilt, wird dabei einen maßgeblichen Einfluss auf die zukünftigen Ergebnisse einnehmen.
1 Boris Groys: U-Bahn als U-Topie, in: Die Erfindung Rußlands, München 1995, S. 156 – 166
2 Dietmar Neutatz: Die Moskauer Metro. Von den ersten Plänen bis zur Großbaustelle des Stalinismus (1897 – 1935), Köln/Weimar 2001
3 Die prachtvoll-stalinistischen Metro-Station als historisierte Palastarchitektur gelten zunehmend wieder als Vorbild zahlreicher Neubauten z.B. Baku, Kazan, Minsk, Tashkent oder Yekaterinburg
4 Gemäß der berühmten Formulierung Lenins: Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes“, zit. n. Groys (Anmkg 1), S. 165
5 David Welsh: Underground Writing: The London Tube from George Gissing to Virginia Woolf, Liverpool University Press, 2010; David Ashford, London Underground: A Cultural Geography, Liverpool: Liverpool University Press, 2013. Ein unterhaltsames Beispiel über das Leben des einfachen Menschen in der Londoner Tube ist der 2009 restaurierte Stummfilm „Unterground“ von Anthony Asquith aus dem Jahr 1928.
6 Claire Dobbin: London Underground Maps: Art, Design and Cartography, London 2012
7 http://www.parisinconnu.com/edicules-guimard/metro-ligne-3-wagram-europe-l3-p1.html und http://www.metrodemontreal.com/art/guimard/index.html
8 Einige Bestandsaufnahmen und Projektdokumentationen finden sich in: Rolf Purpar: Kunststadt Düsseldorf, Objekte und Denkmäler im Stadtbild, Grupello Verlag, Düsseldorf, 1996/2009; Wolfgang Funken: Ars Publica Düsseldorf, Geschichte der Kunstwerke und kulturellen Zeichen im öffentlichen Raum der Landeshauptstadt, Klartext Verlagsgesellschaft 2012; Ulla Lux, Cosima Rainer, Pia Witzmann: Hell-gruen: 30 Kunstprojekte im und um den Düsseldorfer Hofgarten, Düsseldorf, 2002. Peter Schwickerath/Bernd Jansen Skulptur D-88, hrsg. Verein zur Veranstaltung von Kunstausstellungen e.V., Düsseldorf, 1988; Skulpturen im Südpark Düsseldorf 1987, hrsg. vom Kulturamt Düsseldorf 1987Ein visueller Parcours ist einsehbar unter: http://welt-der-form.net/Duesseldorf/index.html
9 1988 bekamen acht Düsseldorfer Maler den Auftrag, jeweils ein Bild im Format 400 x 300 cm für die eigens frei gelassenen Werbeflächen zu malen. Beauftragt wurden Herbert Bardenheuer, Holger Bunk, Adolphe Lechtenberg, Bertram Jesdinsky, Tina Juretzek, Julia Lohmann, Martina Kissenbeck und Fernand Roda. Die Arbeiten sind noch heute zu sehen und wurden 1988 in einem vom Kulturamt der Stadt Düsseldorf herausgegebenen Katalog dokumentiert. Das Projekt wurde allerdings schon zu seiner Entstehung selbstkritisch als eher hilfloses Unterfangen bewertet, wurde den Gemälden kaum mehr als die Rolle eines dekorativen Versatzstücks im öffentlichen Raum zugesprochen.
10 Vgl. hierzu etwa Publikationen wie Volker Plagemann (Hg.): Kunst im öffentlichen Raum. Anstöße der 80er Jahre, Köln 1989 oder Florian Matzner: Public Art. Kunst im öffentlichen Raum, München 2001, in denen Beispiele aus Düsseldorf fehlen (ausgenommen Mischa Kuballs „Megazeichen“ am Mannesmann-Hochhaus 1990).
11 Ausführlich hierzu die Homepage der Arbeitsgruppe: http://kukodus.de/index.php/kukodus-ein-handlungskonzept-fuer-die-landeshauptstadt-duesseldorf/
12 Vgl. hierzu: Siegerkunst verlangt nach einer neuen Auftragskultur, in: Wolfgang Ullrich: Siegerkunst. Neuer Adel, teure Lust, Berlin 2016, S. 114 – 129
13 Marc Augé, Non-Places: An Introduction to Supermodernity, trans. John Howe (Brooklyn and London, 2009). Back to top