Ursula Damm – Turnstile
Text von Anja Schürmann
»Ein Strom des organischen Lebens wälzt sich von den schicksalhaft verbundenen Gruppen zu ihren Ornamenten, die als magischer Zwang erscheinen und so mit Bedeutung belastet sind, daß sie sich zu reinen Liniengefügen nicht verdünnen lassen.«
(Siegfried Kracauer)*
Die Ornamente der Masse von Sigfried Kracauer haben auch eine Verbindung
zur künstlerischen Arbeit von Ursula Damm. Ihre Gestaltung der
U-Bahnstation Schadowstraße lässt sich grob in zwei Teile gliedern:
Zuerst wird der Passant von einem Raum empfangen, der mit blauen
Glasfliesen ausgestattet wurde. Auf den Fliesen sieht man 21 Luftbilder
des Katasteramtes Düsseldorfs, die die Stadt in Karten zeigen, den
Himmelsrichtungen entsprechend: Im Norden der Station befindet sich ein
Detail von Golzheim, im Süden sieht man Bilk usw.
Diese Karten hat die Künstlerin einem geometrischen Verfahren
unterworfen, das als Handlungsanweisung auch in der Station
wiedergegeben ist: ausgehend von den größten Verkehrsadern stehen die
Straßen als Bewegungsachsen zu anderen Straßenzügen in einem
geometrischen Verhältnis, das eine Fläche mit mehreren Ecken, ein
Polygon, umschließt. Von diesen Polygonen aus werden die Winkel und
Achsen untersucht, um größere, symmetrischere Polygone zu
identifizieren, die zur Beschreibung des Kartenausschnittes dienen
können. Diese größeren Strukturen versucht Damm wiederum in ein
Verhältnis zu tatsächlich zweidimensional auf der Karte vorhandenen
Flächen wie Parks oder Häuserblöcken zu setzen, um die abstrakten
Strukturen wieder an die »Energiezentren, die sich über die Entwicklung
der Stadtarchitektur aneinander angepasst haben« rückzubinden, wie die
Künstlerin formuliert.
Das Kernstück von Turnstile ist aber eine große LED-Wand auf der
Tunnelebene, die zwischen zwei Lichtschächte gespannt und mit einer
Videokamera verbunden ist, welche sich oberirdisch auf der Schadowstraße
befindet.
Dort werden die Daten für die Visualisierung gesammelt:
gefilmte Echtzeitbewegungen der Passanten, die auf die Wand übertragen,
und im Sinne einer Normalverteilung gesammelt werden. Ein Mensch kann
auch hier mit einem Polygon interagieren, seine Bewegungsrichtung kann
den Ruheraum für die Geometrien stören. Wieder ergeben sich auf diese
Weise Verbindungen zwischen den Passanten, die über sie hinausweisen,
sowie weitergedacht und -gerechnet werden können.
Denn die Schadowstraße und ihre U-Bahnstation markieren ein Drehkreuz
(engl. Turnstile), wo sich inmitten der Stadt die größten Verkehrsströme
kreuzen und die meisten Menschenmassen in unterschiedlicher
Darreichungsform bewegt werden, wobei der hintere Wortteil tile
gleichzeitig auf eine Fliese, eine Platte, verweist. Auf diesem Screen
hat sich weniger Gesehenes als der Blick auf Gesehenes, im Sinne von
Geschichtetem verdichtet, so dass die ursprüngliche Datenerfassung
abstrakt, aber immer noch spürbar bleibt.
Die Operationen folgen der
These, das in städtischen Ballungszentren neben der gebauten noch eine
andere Form von Architektur existiert, die sich aus den energetischen
Spuren der Passanten, ihren kurzzeitigen Beziehungen und Bewegungen
speist. Die geometrischen Formen, die auf der LED-Wand zu sehen sind,
weigern sich, den Mensch als Masse zu begreifen und ihm ein
berechenbares Verhalten zu unterstellen, da sie sich aus einzelnen und
nie wiederholbaren ›Gangarten‹ entwickeln. Auf den leeren Flecken der
stark frequentierten Orte entstehen die von der Software entworfenen
Räume. Von dort aus werden Zentren identifiziert, weiß markiert und
immer wieder neue, flexible Berührungspunkte zu anderen Zentren gesucht.
So entsteht eine virtuelle Architektur, die jederzeit anpassungsfähig
mit den Menschen interagiert, die den Raum nutzen. Ähnlich wie bei
Vitruv, dem antiken Architekturtheoretiker, wird hier der Mensch wieder
zum Maß aller Dinge. Doch ist es kein statischer, sondern ein bewegter
Mensch, den Damm im Sinn hat, um die Hierarchie von bebautem und
benutztem Stadtraum umzukehren.
Als Gegenpol und als Korrektur eines hegemonialen Narrativs bietet die
Künstlerin eine alternative Zählung auf mehreren Ebenen an. Kann man als
Zeitgenosse unterschiedlicher Gegenwarten – so fragt sich die
Gestaltung – individuelles Verhalten generalisieren und in Parameter
überführen, die Schwarmbewegungen entsprechen? Und hat die Art, wie wir
uns im öffentlichen Raum bewegen, Konsequenzen für größere Strukturen,
für Architekturen oder ganze Wohnviertel? Sind urbane Strukturen
überhaupt anthropomorph, ähneln sie menschlichem Verhalten? Wenn ja,
dann ist jeder Schritt sicher oder sinnvoll, weil jeder Schritt
strukturiert, markiert und – somit ist die Handlungsanweisung in der
Station nur folgerichtig – eine gestalterische Rolle übernimmt.
*
Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt a. M. 1977, S. 51.Back to top